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Ruhe schöpfen aus der Welt der Märchen

 

In der Sterbebegleitung im Pflegeheim haben Märchen ihren Platz, weil sie Geborgenheit vermitteln. Voraussetzung: Die Betreuungskraft, die am Bett der sterbenden Person sitzt, wird von der Einrichtung unterstützt und kann sich Zeit nehmen.

VON ANDREA KOLHOFF

In manchen Pflegeheimen kommen Mitglieder eines Hospizdienstes in die Einrichtung, um Sterbende zu begleiten. In anderen Fällen sind die Betreuungskräfte des jeweiligen Seniorenheims mit dieser Aufgabe betraut. Der Vorteil: Sie kennen die meisten Bewohner und Bewohnerinnen schon lange und sind mit ihnen vertraut. Mitarbeiterinnen, die als Betreuungskraft arbeiten, haben sich in einer Fortbildung zu „Märchen in der Sterbebegleitung“ neue Kraft für ihre Tätigkeit geholt und Wissenswertes zum Einsatz von Märchen erfahren. Gemeinsam mit der Seminarleitung, der Märchenerzählerin und Sterbe- und Trauerbegleiterin Sonja Fischer, erarbeiteten sie wichtige Punkte als Voraussetzung für eine gelingende Begleitung.

DER AUFTRAG
Sterbende in ihren letzten Stunden nicht allein zu lassen, ist ein wichtiger Auftrag an alle, die mit diesem Menschen zu tun haben. Nicht immer können Angehörige dabei sein oder wollen die Sterbebegleitung übernehmen, dann ist es gut, wenn beispielsweise das Personal einer Pflegeeinrichtung sich Zeit nehmen kann.

Der Tod gehöre zu unserem Leben und auch im Pflegeheim dazu, man solle ihn nicht als Feind betrachten, so Sonja Fischer. Wenn ein Mensch auf die Welt komme, weine der Säugling und die Umstehenden lachen. Wenn ein Mensch sterbe, also die Geburt für ein neues Leben durchmache, lächele er selbst und die anderen weinen. So zumindest hat Fischer, die ehrenamtlich in der Sterbebegleitung tätig ist, es oft erfahren.

MOTIVATION
Die Betreuungskräfte, die an der Fortbildung teilnahmen, gaben als ihre Motivation an, sie wollten die sterbende Person auf dem letzten Weg nicht allein lassen – „auch wenn sie es vielleicht nicht mitkriegt“, wie es eine Frau formulierte. „Doch, sie kriegt es mit!“ betonte Sonja Fischer. Deshalb sei es wichtig, darauf zu achten, was am Sterbebett gesprochen wird; der Gehörsinn gehe als Letztes.
Es hieß, jemanden in den letzten Stunden zu begleiten, sei selbstverständlich, denn man sei mit den Bewohnern vertraut. „Ich habe ja eine Beziehung zu ihnen, viele habe ich ja auch ins Herz geschlossen“, sagte eine Teilnehmerin. Und eine Kollegin ergänzt: „Sie sind uns anvertraut und wir begleiten sie auf der letzten Reise.“

UNTERSTÜTZUNG NÖTIG
Dabei ist es wichtig, dass die Betreuungskräfte als Sterbebegleiter von der Heimleitung und den pflegenden Kolleginnen unterstützt werden. Es ist hilfreich, wenn Menschen eingebunden werden, die eine Palliativausbildung haben, und wenn dafür gesorgt wird, dass der Sterbende keine Schmerzen und keine Angst haben muss. Gut ist es auch, wenn beispielsweise Pflegepersonal vorbeischaut und fragt, ob die Betreuungskraft, die am Sterbebett sitzt, etwas braucht.
Entlastend für die Betreuungskräfte ist, wenn sie nach einer Begleitung mit jemandem darüber sprechen können, vielleicht mit dem Diakon, mit einer Ordensschwester, miteinander oder in einer Supervisionsrunde. Das verhindert, dass sie belastende Ereignisse gedanklich mit nach Hause nehmen müssen.

BELASTUNG DURCH PANDEMIE
Gerade in der Zeit der Lockdowns während der Corona-Pandemie hat es in vielen Einrichtungen weniger Austausch gegeben, weil darauf geachtet wurde, dass Mitarbeiterinnen einer Wohneinheit sich nicht mit anderen Kolleginnen mischen. Was zum Schutz der Bewohner gedacht war, hatte bisweilen negative Auswirkungen auf die Betreuungskräfte. Sie habe sich oft mit den Belastungen alleingelassen gefühlt, sagte eine Teilnehmerin. Sonja Fischer ermunterte alle, bei ihren Arbeitgebern auf Verbesserungen zu drängen, zur Heimleitung zu gehen und zu sagen, was nötig sei: mehr Zeit, mehr Austausch oder auch Abschaffung von unbezahlten Überstunden.

SELBSTFÜRSORGE
Fischer betonte, wie wichtig es ist, dass die Betreuungskräfte darauf achten, nicht auszubrennen. Zu einer guten Selbstfürsorge gehöre, dass jede wisse, was ihr gut- tue, und sie sich dafür Zeit nehme. Das kann für die eine die Heimfahrt auf dem Fahrrad sein – das Radeln durch die Natur mit dem Fahrtwind um die Ohren –, für die andere das Gespräch mit der Familie und die stillen Stunden des Feierabends im Garten oder auch die laute Musik im Auto, die ins Hier und Jetzt zurückholt.
Damit es nicht heißt „Ich nehme das alles mit nach Hause“, können Gespräche mit Kolleginnen helfen, aber auch, dass man versucht, einen Abschluss zu finden und sich nach einer belastenden Begleitung zum Beispiel zu sagen: „Er hatte das Recht zu gehen.“

STERBEKULTUR PFLEGEN
Gut ist es, wenn es ein Heim schafft, eine gute Sterbekultur und Trauerkultur zu pflegen. Dazu gehört, die Sterbenden nicht allein zu lassen, den Bestatter nicht durch den Hintereingang zu schleusen und mit dem Tod des Bewohners offen umzugehen – es haben ja doch die meisten anderen etwas mitbekommen. Manche Mitarbeiterinnen ermöglichen den anderen Bewohnern, sich im Zimmer vom Verstorbenen zu verabschieden. Auf dem Flur des Wohnbereichs oder im Eingangsfoyer kann ein Bild aufgestellt und eine Kerze angezündet werden. So bleibt der Bewohner in Erinnerung.

ANGEHÖRIGE
Manchmal sind Angehörige mit der Situation überfordert oder wollen keine Begleitung übernehmen, weil unverzeihliche Dinge aus der Vergangenheit dem entgegenstehen. Über die Gründe wissen die Betreuungskräfte in der Regel nichts und können sich kein Urteil anmaßen.
In den Fällen, in denen Angehörige da sind, ist es hilfreich, sie zu unterstützen. Bisweilen können sie nicht loslassen, obwohl die sterbende Person gerne gehen möchte. Dann kann man entweder versuchen, sie auf dem Flur darauf anzusprechen, oder einfach dafür sorgen, dass mehr Ruhe ins Geschehen kommt.

MÄRCHEN GEBEN GEBORGENHEIT
Mit Märchen könne man nichts falsch machen, sagt Sonja Fischer. Weil sie Geborgenheit, Inniglichkeit und ein Miteinander vermitteln, bringen sie Ruhe in ein Sterbezimmer. Der Effekt: „Ich bin ruhig, der, der geht, wird ruhig, die Angehörigen werden ruhiger.“ Demnach schwingen sich alle auf die Herzfrequenz des Märchens ein, wie Fischer sagt.

Viele Menschen haben Märchen in guter Erinnerung: weil sie welche erzählt bekamen oder aus der Zeit, als sie als Eltern ihren Kindern Märchen erzählten. Die alten Volksmärchen vermitteln Trost. Sie erzählen von Glaube und Hoffnung, von einem Füreinanderdasein, denn sie schöpfen aus dem kollektiven Sehnen der Menschheit. Ein Märchen geht gut aus, aber es gibt immer auch eine Weiterentwicklung, so Fischer. Wer frei erzählen kann, sollte dies tun, dann kann er weiter die Hand der Sterbenden halten. Aber es ist auch möglich, dem Sterbenden eins seiner Lieblingsmärchen mit ruhiger Stimme vorzulesen.

www.maerchenerzaehlerin-sonja-fischer.de